
Ballistischer Schutz für militärische Landfahrzeuge – Herausforderungen und Lösungen
Moderne militärische Landfahrzeuge sind einer Vielzahl von Bedrohungen ausgesetzt, die weit über klassische ballistische Angriffe hinausgehen. Neben kinetischen Energiegeschossen (KE-Bedrohungen) spielen auch Hohlladungen, improvisierte Sprengsätze (IEDs), Minen sowie neuartige Bedrohungen wie Top-Attack-Waffen – darunter Loitering Ammunition, Streumunition (Bomblets) und Drohnen – eine entscheidende Rolle.
Um diesen Bedrohungen wirksam entgegenzutreten, werden Schutzmaßnahmen nach den definierten Prüfkriterien der STANAG 4569 sowie des AEP-55 entwickelt. Diese Normen legen Schutzklassen für ballistischen Schutz, Minenschutz und IED-Resistenz fest und dienen als Grundlage für die Entwicklung moderner Schutzsysteme.
Bedrohungen für militärische Landfahrzeuge
1. Kinetische Energie-Bedrohungen (KE-Bedrohungen)
Klassische ballistische Bedrohungen durch Infanteriewaffen, Maschinengewehre oder Bordkanonen reichen von Kalibern wie 7,62 mm bis hin zu panzerbrechender Munition wie 30 mm APFSDS (Armor-Piercing Fin-Stabilized Discarding Sabot).
STANAG 4569 definiert Schutzklassen von Level 1 bis 6, die den Widerstand gegen unterschiedliche Projektile spezifizieren – von Handfeuerwaffen bis hin zu 30-mm-Geschossen.
2. Artilleriebedrohungen
Artilleriebedrohungen für Landfahrzeuge werden ebenfalls im NATO Standard spezifiziert und beziehen sich insbesondere auf den Schutz gegen Splitter, wie sie bei der Detonation von Artilleriegeschossen entstehen. Die Schutzstufen gemäß STANAG 4569 KE werden durch die entsprechenden Artilleriebedrohungen ergänzt, sogenannten Fragment Simulating Projectiles (FSP). Diese FSPs dienen in Testverfahren als Standardisierte Splittermodelle.
Schutzklasse | KE-Bedrohung | Referenz Artillerie |
6 |
Waffe: Automatik-Kanone, 30 mm Munition: APFSDS und AP |
Artillerie: 155 mm Geschätzte Reichweite der Explosion: 10 m Azimut 360° Elevation: 0 – 90° |
5 |
Waffe: Automatik-Kanone, 25 mm Munition: APDS und APFSDS Entfernung: 500 m |
Artillerie: 155 mm Geschätzte Reichweite der Explosion: 25 m Azimut 360° Elevation: 0 – 90° |
4 |
Waffe: Schweres Maschinengewehr, 14,5 mm Munition: AP |
Artillerie: 155 mm Geschätzte Reichweite der Explosion: 25 m Azimut 360° Elevation: 0 – 90° |
3 | Waffe: Maschinengewehr und Scharfschützengewehre, 7,62 mm Munition: AP-Wolframkarbid und AP-Hartstahlkern Entfernung: 30 m Anale: Azimut 360°; Elevation 0-30° |
Artillerie: 155 mm Geschätzte Reichweite der Explosion: 60 m Azimut 360° Elevation: 0 – 30° |
2 |
Waffe: Sturmgewehre, 7,62 mm Munition: AP-Stahlkern Entfernung: 30 m |
Artillerie: 155 mm Geschätzte Reichweite der Explosion: 80 m Azimut 360° Elevation: 0 – 22° |
1 |
Waffe: Sturmgewehre: 7,62 und 5,56 mm Munition: Kugel |
Artillerie: 155 mm Geschätzte Reichweite der Explosion: 100 m Azimut 360° Elevation: 0 – 18° |
3. Hohlladungs-Bedrohungen
Hohlladungen, wie sie in Panzerabwehrlenkwaffen (ATGMs) oder RPGs verwendet werden, stellen eine besonders gefährliche Bedrohung dar, da sie durch gerichtete Wirkung konventionelle Panzerungen durchdringen können. Der Gefechtskopf der RPG-7 beispielsweise formt einen Penetrator, welcher 100 km/s erreicht und ca. 320mm Panzerstahl durchschlägt. Diese schultergestützten Systeme sind weit verbreitet und vergleichsweise günstig zu bekommen.
4. Improvisierte Sprengsätze (IEDs) und Minen
IEDs und Minen sind häufige Bedrohungen in asymmetrischen Konflikten und haben in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Fahrzeuge zerstört. Sie sind oft mit einer hohen Sprengkraft ausgestattet und gezielt gegen Fahrzeugunterböden gerichtet.
STANAG 4569 Level 1–4 spezifiziert Minenschutz gegen Detonationen unter den Ketten oder Rädern sowie unter dem Fahrzeugrumpf.
Level | Gefährdung durch Minenexplosion |
||
4 | 4b | Minenexplosion mittig unter Fahrzeug | Explosivpanzermine mit 10 kg Explosivmasse |
4a | Durch Überfahren aktivierte Minenexplosion unter einzelnem Rad oder Kette | ||
3 | 3b | Minenexplosion mittig unter Fahrzeug | Explosivpanzermine mit 8 kg Explosivmasse |
3a | Durch Überfahren aktivierte Minenexplosion unter einzelnem Rad oder Kette | ||
2 | 2b | Minenexplosion mittig unter Fahrzeug | Explosivpanzermine mit 6 kg Explosivmasse |
2a | Durch Überfahren aktivierte Minenexplosion unter einzelnem Rad oder Kette | ||
1 | Handgranaten, nicht explodierte Streumunition und andere Sprengkörper (z. B. Anti-Personenminen), die unter Fahrzeug explodieren |
5. Top-Attack-Bedrohungen: Loitering Ammunition, Bomblets und Drohnen
Eine neue und zunehmend gefährliche Bedrohung geht von Waffen aus, die gezielt von oben angreifen – ein Bereich, der bei vielen klassischen Panzerungen nur unzureichend geschützt ist.
- Loitering Munition sind kleine, wendige Kamikazedrohnen mit panzerbrechenden Gefechtsköpfen.
- Bomblets aus Streumunition können größere Gebiete mit panzerbrechenden Submunitionen übersäen.
- Drohnen mit Sprengladungen oder Lenkwaffen stellen eine flexible Bedrohung dar und können auch aus der Distanz gesteuert werden.
Besonderheiten von Schutzsystemen für Landfahrzeuge
1. Kombination aus passiven, reaktiven und aktiven Schutzsystemen
Moderne Fahrzeuge nutzen oft eine Kombination aus passiven Panzerungen, reaktiven Systemen und aktiven Schutzmechanismen, um ein möglichst hohes Schutzniveau bei minimalem Gewicht zu erreichen.
- Passive Schutzsysteme umfassen Verbundpanzerungen, Zusatzpanzerungen und energieabsorbierende Materialien. Der große Vorteil passiver Systeme liegt darin, dass Sie immer funktionieren unabhängig von jeglicher Sensorik oder Einsatzbedingung und dies mit hoher Mehrfachbeschussfähigkeit. Das Systemgewicht steigt grundsätzlich mit der Schutzklasse. Allerdings lassen sich durch den Einsatz geeigneter Materialien, wie Keramiken und Faserverbunde im Vergleich zu reinen Panzerstahllösungen massive Gewichtseinsparungen realisieren. Des Weiteren besteht die Möglichkeit das System polyvalent auszulegen, so dass es gegen verschiedene Bedrohungen gleichzeitig schützt z.B. Hohlladungsschutz mit integriertem KE- und Artillerie Schutz.
- Reaktive Panzerungen (ERA) zerstören anfliegende Hohlladungsgeschosse oder auch großkalibrige KE Geschosse, indem sie eine Gegenexplosion erzeugen. So kann im Vergleich zu rein passiven Lösungen Gewicht eingespart werden. In der Regel wird ein Reaktivschutz in Kombination mit einem leichten Passivschutz ausgelegt um eine sichere Funktion zu realisieren. Dennoch sind diese Systeme nicht für alle Fahrzeuge bzw. Einsatzszenarien geeignet, da es beim Auslösen der Reaktivmodule zu Splitterwirkungen in der näheren Umgebung kommen kann, was eine potentielle Gefahr für Kollateralschäden bedeutet. Auch können ERA bereits durch Kleinkalibrige Angriffe auslösen und stehen dann nicht mehr für den eigentlichen Zweck zur Verfügung, was die Schutzabdeckung des Fahrzeuges deutlich reduziert.
Einen Sonderfall der Reaktiven Systeme stellen NERA (Non explosive reactive armour) dar. Diese wirken ohne Sprengstoff, durch physikalisch reaktive Effekte dem Geschoss entgegen und werden daher eher den passiven Schutzlösungen zugeordnet, da sie auch nicht die Nachteile von ERA Systemen mit sich führen, andererseits aber auch wieder deutlich schwerer sind.
- Aktive Schutzsysteme (APS) wie Trophy oder Iron Fist erkennen und neutralisieren anfliegende Bedrohungen durch gerichtete Gegenmaßnahmen. Sie wirken vor allem gegen langsamere, anfliegende Lenkflugkörper wie z.B. RPGs oder ATGMs und setzen dabei auf Hardkill-Mechanismen wie Abfangladungen. Ihre Wirksamkeit gegen KE-Geschosse wie APFSDS ist bislang begrenzt, da diese mit hoher Geschwindigkeit anfliegen und schwer zu erkennen sind. Zudem erhöht APS die technische Komplexität des Fahrzeuges deutlich, da es hochentwickelte Sensorik und schnelle Reaktionszeiten erfordert. Die Integration ist dementsprechend kostspielig und mit Herausforderungen bei Wartung, Energieversorgung und der Vermeidung von Kollateralschäden verbunden, insbesondere im Umfeld eigener Truppen oder in bebauten Gebieten.
Aufgrund der verschiedenen Vor- und Nachteile der Systeme muss im Einzelfall anhand einer Vielzahl von Faktoren abgewogen werden welche Art Schutzsystem sinnvoll ist oder ob es eine Kombination verschiedener Systeme benötigt.
2. Modulare passive Schutzsysteme
Die größte Bandbreite an Schutzlösungen bieten passive Systeme, da sie gegen alle Arten von Bedrohungen eingesetzt werden können. Generell unterscheidet man verschiedene Arten passiver Schutzaufbauten, welche kombiniert als modulare Gesamtlösung entsprechend der geforderten Schutzanforderungen fungieren.
Stand alone-Panzerungen
Ein Beispiel für eine Stand Alone Panzerung ist eine Fahrzeugwanne aus Panzerstahl, welche für sich allein bereits einen Grundschutz gegen KE und Artilleriesplitter bietet.
Add-on-Panzerungen
Diese Zusatzpanzerungen könne zusätzlich zur Erweiterung des Grundschutzes am Fahrzeug angebracht werden um das Schutzniveau beispielsweise von KE Level 1 auf KE Level 3 zu erhöhen. Darüber hinaus gibt es auch Add-on Panzerungen gegen Hohlladungen oder Systeme im Dachbereich, welche Schutz z.B. gegen Bomblets bieten.
Spall Liner
Splitterschutz Liner sind Faserverbundsysteme die im Innenraum des Fahrzeuges angebracht werden um vor eindringenden Splittern z.B. durch Abplatzungen aus der Fahrzeughülle zu Schützen. Sie können als redundante Systeme zur Erhöhung des Insassenschutzes oder als Teil des Gesamtkonzeptes ausgelegt sein.
Minenschutzsysteme
V-förmige Fahrzeugunterböden und energieabsorbierende Materialien sind bewährte Schutzmaßnahmen gegen Minen- und IED-Bedrohungen. Mit steigender Schutzklasse allerdings steigt auch das Maß an Komplexität von Minenschutzlösungen, da eine Gesamtsystemkonzeptionierung nötig ist, um den Insassenschutz zu gewährleisten. Hierzu kommen schockabsorbierende Systeme, Dämpfer und Entkopplungen zum Einsatz.
Abstandswirksame Systeme
Netze oder Gitterlösungen dienen dem Schutz militärischer Fahrzeuge vor Panzerbrechender Munition. Diese Systeme bringen die Detonation der Gefechtsköpfe bereits in einem definierten Abstand zur Fahrzeughülle zur Wirkung, wodurch die Energie der Ladung abgeschwächt wird. Sie bieten eine leichte, kosteneffiziente und nachrüstbare Schutzmaßnahme, welche jedoch in ihrer Wirksamkeit stark eingeschränkt ist.
Verwundbarkeitsanalysen – Identifikation kritischer Schwachstellen
Eine effektive Schutzstrategie beginnt mit einer umfassenden Verwundbarkeitsanalyse, um kritische Schwachstellen zu identifizieren. Hierbei werden folgende Faktoren berücksichtigt:
1. Bedrohungsanalyse: Welche Arten von Bedrohungen sind missionsspezifisch zu erwarten?
Die Bedrohungsanalyse umfasst zum einen die Klärung unpräziser oder unvollständiger Anforderungen und darüber hinaus die Aufklärung über essentielle Hintergründe zu den missionsbezogenen Bedrohungen, ihre Auswirkungen und die erforderlichen Testmethoden. Anhand von Wahrscheinlichkeitsanalysen können Notwendigkeiten und Prioritäten evaluiert werden um im Nachgang eine priorisierte Auslegung gemäß Gefahrenlage vorzunehmen.
2. Systematische Schwachstellenanalyse: Welche Bereiche des Fahrzeugs sind besonders verwundbar?
Die Systemanalyse umfasst zunächst die Identifikation von Integrationsoptionen gemäß Schutzanforderung. Im nächsten Schritt können Schwachstellen identifiziert und Maßnahmen zur Optimierung getroffen werden. Besonders verwundbare Komponenten werden besonders betrachtet, wobei der Insassenschutz immer höchste Priorität hat. Besonders bei Upgrade Vorhaben für bestehende Systeme dient dieser Schritt als Grundlage für die folgende Konzeptionierung.
Besonders kritische Bereiche bei Landfahrzeugen sind:
- Munitionslager: Ein Treffer kann zur Detonation der gesamten Munition führen.
- Besatzungsraum: Ein maximaler Schutzabdeckungsgrad wird angestrebt, um die Überlebenschancen der Insassen zu maximieren.
- Fahrzeugunterboden: Besonders gefährdet durch Minen und IEDs. Auch hier spielt die Wirkung auf die Insassen eine übergeordnete Rolle.
- Turm und Sensoren: Ein Ausfall kann die Kampfkraft des Fahrzeugs erheblich reduzieren. Moderne Fahrzeuge sind zudem mit einer Vielzahl optronischer Systeme ausgerüstet – die Augen und Ohren der Plattform.
- Fahrzeugdach: Aus gewichtsgründen ist das Fahrzeugdach in der Regel nur leicht geschützt und bietet daher keinen ausreichenden Schutz gegen schwere Bedrohungen, wie beispielsweise eine von einer Drohne abgeworfene Hohlladung. Dies war auch in der Vergangenheit nicht vorgesehen und muss neu bewertet werden.
3. Schutzsystem Konzeptionierung
Auf Basis vorangegangener Analysen und/oder definierter Anforderungen wird ein optimales Schutzkonzept erarbeitet, welches u.a. die Bedrohungslage, integrative Besonderheiten sowie Gewichts- und Umweltanforderungen berücksichtigt. Hier entscheidet sich welche Art von Zusatzpanzerungen, Minenschutz etc. zum Tragen kommen und ob eine Kombination von beispielsweise passiven und Reaktiven Systemen sinnvoll ist. Darüber hinaus kann jedes Subsystem so ausgelegt werden, wie es optimal für die jeweilige Verwendung im individuellen Fahrzeug ist.
4. Finale Validierung
Sowohl die Einzelsysteme als auch das Gesamtfahrzeug müssen den Nachweis ihrer Leistungsfähigkeit gemäß den Prüfkriterien der STANAG 4569 und AEP 55 erbringen. Ist dies erfolgt ist das gesamte System mit all seinen Subsystemen qualifiziert.
Weitere Informationen zum STANAG 4569 entnehmen Sie unserem Blogbeitrag: STANAG 4569: Schutzanforderungen für gepanzerte Militärfahrzeuge
Zusammenfassung
Der ballistische Schutz militärischer Landfahrzeuge ist eine komplexe Herausforderung, da sich die Bedrohungslage ständig weiterentwickelt. Während klassische KE-Bedrohungen und Hohlladungen weiterhin gefährlich sind, stellen moderne Angriffsarten wie IEDs, Minen und vor allem Top-Attack-Waffen eine wachsende Gefahr dar.
Durch die Standardisierung nach STANAG 4569 und AEP-55 lassen sich Schutzsysteme gezielt auf spezifische Bedrohungsszenarien abstimmen. Die Kombination aus passivem Schutz, reaktiver Panzerung, aktiven Schutzsystemen und Drohnenabwehr ist entscheidend, um Fahrzeuge und Besatzungen in modernen Gefechtsfeldern optimal zu schützen.
Nur durch eine konsequente Verwundbarkeitsanalyse und eine flexible Anpassung der Schutzmaßnahmen kann gewährleistet werden, dass militärische Landfahrzeuge auch in Zukunft ihrer Rolle als geschützte Träger von Feuerkraft und Mobilität gerecht werden. Besonders im Bereich der Drohnenabwehr gibt es dringenden Handlungsbedarf zur Entwicklung neuer Schutzkonzepte.
Mehler Protection ist daher sehr innovationsgetrieben und hat einen großen Schwerpunkt im Bereich Forschung und Technologieentwicklung. So wurde die Produktfamilie M-RACC, zum Schutz vor konventionellen Bedrohungen wie KE-Munition, Hohlladungen, Minen, Bomblets und IEDs bereits durch die Produktfamilie PROTEC3D ergänzt, welche 3D-Drucktechnologie mit Panzerstahl nutzt um beispielsweise Optronik am Fahrzeug zu schützen. Zurzeit steht das Thema Drohnenabwehr im Mittelpunkt der Entwicklungen.
Bilder und Grafiken: Mehler Protection, Mehler Engineered Defence GmbH (All rights reserved, 2025)