
Ballistischer Schutz im Marinebereich – Herausforderungen und Lösungen
Moderne Marineeinheiten sind zunehmend mit asymmetrischen Bedrohungen konfrontiert. Neben konventionellen Angriffen durch feindliche Kriegsschiffe oder Flugzeuge spielen Piraten, Terroristen und nichtstaatliche Akteure eine immer größere Rolle. Besonders in Küstennähe, bei Kanaldurchfahrten oder während Hafenoperationen sind Schiffe verwundbar gegenüber kleinkalibrigem Beschuss, Panzerabwehrwaffen und Sprengstoffangriffen.
Allgemeine Herausforderungen und Anforderungen an Schutzsysteme im Marine Bereich
Die zentrale Herausforderung beim Schutz von Marineschiffen liegt darin, die richtige Balance zwischen Schutzwirkung, Gewicht und Korrosionsbeständigkeit zu finden. Während für Landfahrzeuge die STANAG 4569 als Standard für Testprozeduren von ballistischen Schutzmaterialien geschaffen wurde, gibt es für den maritimen Bereich keine allgemeingültige Definition von Schutzklassen. In der Regel wird daher auf die bestehende Norm STANAG 4569 zurückgegriffen.
Schutzklasse | KE-Bedrohung | Referenz Artillerie |
1 | Waffe: Sturmgewehre: 7,62 und 5,56 mm Munition: Kugel Entfernung: 30 m Winkel: Azimut 360°; Elevation 0-30° |
Artillerie: 155 mm Geschätzte Reichweite der Explosion: 100 m Azimut 360° Elevation: 0 – 18° |
2 | Waffe: Sturmgewehre, 7,62 mm Munition: AP-Stahlkern Entfernung: 30 m Winkel: Azimut 360°; Elevation 0-30° |
Artillerie: 155 mm Geschätzte Reichweite der Explosion: 80 m Azimut 360° Elevation: 0 – 22° |
3 | Waffe: Maschinengewehr und Scharfschützengewehre, 7,62 mm Munition: AP-Wolframkarbid und AP-Hartstahlkern Entfernung: 30 m Winkel: Azimut 360°; Elevation 0-30° |
Artillerie: 155 mm Geschätzte Reichweite der Explosion: 60 m Azimut 360° Elevation: 0 – 30° |
4 | Waffe: Schweres Maschinengewehr, 14,5 mm Munition: AP Entfernung: 200 m Winkel: Azimut 360°; Elevation 0° |
Artillerie: 155 mm Geschätzte Reichweite der Explosion: 25 m Azimut 360° Elevation: 0 – 90° |
5 | Waffe: Automatik-Kanone, 25 mm Munition: APDS und APFSDS Entfernung: 500 m Winkel: Frontbogen zur Mittellinie: ± 30° seitlich eingeschlossen; Elevation 0° |
Artillerie: 155 mm Geschätzte Reichweite der Explosion: 25 m Azimut 360° Elevation: 0 – 90° |
6 | Waffe: Automatik-Kanone, 30 mm Munition: APFSDS und AP Entfernung: 500 m Winkel: Frontbogen zur Mittellinie: ± 30° seitlich eingeschlossen; Elevation 0 |
Artillerie: 155 mm Geschätzte Reichweite der Explosion: 10 m Azimut 360° Elevation: 0 – 90° |
Weitere Informationen zum STANAG 4569 entnehmen Sie unserem Blogbeitrag: STANAG 4569: Schutzanforderungen für gepanzerte Militärfahrzeuge
In heimatfernen Gewässern ist die Manövrierfähigkeit von Marineschiffen von entscheidender Bedeutung, um flexibel und schnell auf wechselnde Bedrohungslagen und operative Anforderungen reagieren zu können. Ein wesentlicher Faktor zur Verbesserung der Manövrierfähigkeit ist die Gewichtsreduktion der Schiffe. Leichtere Schiffe können schneller beschleunigen, einfacher navigieren und sind insgesamt wendiger, was ihnen einen taktischen Vorteil in komplexen Einsatzszenarien verschafft. Darüber hinaus tragen Gewichtseinsparungen zur Treibstoffeffizienz bei, wodurch die Reichweite und die Einsatzdauer ohne Nachschub erhöht werden können. Dies ist besonders wichtig bei Einsätzen fernab von Heimathäfen, wo die Versorgungslinien lang und potenziell gefährdet sind. Insgesamt unterstützt eine leichtere Bauweise die Interoperabilität und Einsatzflexibilität von Marineschiffen, indem sie die Anpassungsfähigkeit an unterschiedliche geografische und taktische Bedingungen verbessert.
Bedrohungen für Marineflottenverbände
1. Ballistische Bedrohungen durch kinetische Energie-Geschosse (KE-Bedrohungen)
Schiffe können durch Handfeuerwaffen, Maschinengewehre oder großkalibrige Bordkanonen bedroht werden. Besonders gefährlich sind:
- Kleinkalibrige Waffen (5,56 mm – 7,62 mm) – bei Angriffen durch Piraten oder Terroristen von Schnellbooten aus.
- Mittleres Kaliber (12,7 mm – 30 mm) – Gefahr durch Schnellfeuerkanonen oder Schiff-zu-Schiff-Angriffe.
- Großkalibrige Geschütze (>30 mm) – eher in konventionellen Konflikten von gegnerischen Marineeinheiten eingesetzt.
2. Hohlladungen durch Panzerabwehrwaffen wie RPGs
Besonders kritisch sind Hohlladungsgeschosse wie RPGs (Rocket-Propelled Grenades), die gegen ungeschützte Bereiche wie Brückenaufbauten oder Munitionslager verheerende Schäden anrichten können.
- Bedrohung durch asymmetrische Angriffe – beispielsweise durch Piraten mit RPGs, die sich auf Schnellbooten nähern.
- Gefahr in engen Gewässern – etwa bei Kanaldurchfahrten, in Häfen oder in Küstengebieten mit hoher Bedrohungslage.
3. Bedrohung durch Kleinstdrohnen für Marineflottenverbände
Kleinstdrohnen stellen eine wachsende Gefahr für Marineflottenverbände dar, da sie schwer zu entdecken, kostengünstig und flexibel einsetzbar sind. Ihre geringe Radarsignatur und niedrige Flughöhe erschweren die frühzeitige Erkennung durch herkömmliche Luftabwehrsysteme. Auch kleine Über- oder Unterwasserdrohnen stellen eine große Bedrohung dar, wenn sie beispielweise im Hafenbecken gegen Marineeinheiten eingesetzt werden. Kleinstdrohnen können mit Wirkmitteln wie Hohlladungen ausgestattet werden und somit verheerende Wirkungen im Ziel entfalten.
Asymmetrische Akteure und Staaten setzen zunehmend auf Kleinstdrohnen, um mit minimalem Aufwand eine erhebliche Bedrohung für hochmoderne Kriegsschiffe darzustellen. Die Marine sollte daher verstärkt in Drohnenabwehrmaßnahmen investieren, um diesen neuen Herausforderungen zu begegnen.
Besonderheiten von Schutzsystemen für Marineschiffe
1. Materialwahl: Korrosionsschutz und Leichtbau
Schutzmaterialien für Marineschiffe müssen nicht nur ballistischen Anforderungen genügen, sondern auch:
- Korrosionsbeständig sein, da Seewasser metallische Werkstoffe stark angreift.
- Leicht sein, um das Schiffsgewicht und damit die Stabilität nicht negativ zu beeinflussen.
- Modular einsetzbar und je nach Mission flexibel anpassbar sein.
Bild: Modularer Lafettenschutz aus Keramik-Verbundplatten
Typische Materialien sind Keramik-Verbundwerkstoffe, Faserverbundwerkstoffe oder Panzerstähle mit speziellen Korrosionsschutzbeschichtungen.
2. Schutz kritischer Bereiche
Da eine vollständige Panzerung eines Schiffes nicht praktikabel ist, konzentriert sich der Schutz auf besonders verwundbare Bereiche:
- Brücke und Operationsräume zum Schutz der Besatzung und der Steuerungssysteme.
- Munitionslager zur Verhinderung von Sekundärexplosionen durch Treffer.
- Maschinenräume und Antriebssektionen zur Erhaltung der Manövrierfähigkeit.
Bild: Integration in die metallischen Strukturen der Brücke
Verwundbarkeitsanalysen – Identifikation kritischer Schwachstellen
Um den bestmöglichen Schutz zu gewährleisten, sind detaillierte Verwundbarkeitsanalysen erforderlich. Dabei werden:
1. Bedrohungsszenarien definiert und analysiert, z.B. welche Waffen und Angriffsarten sind realistisch?
2. Schwachstellen im Schiffsrumpf und den Aufbauten identifiziert, z.B. welche Bereiche müssen besonders geschützt werden?
3. Schutzmaßnahmen festgelegt und getestet. Die Schutzkonzeptionierung beinhaltet die zielgerichtete Wahl der Technologien und Materialien sowie die individuelle Entwicklung, Designoptimierung und Validierung. In umfangreichen Tests wird die effektiv der Materialien und Schutzsysteme belegt.
Besonders problematisch sind Treffer, die zu einem „Unit Kill“ führen, also das komplette Schiff außer Gefecht setzen, etwa durch:
- Treffer in das Munitionslager – Risiko einer Kettenreaktion.
- Beschädigung der Brücke oder der Operationszentrale – Verlust der Steuerung.
- Zerstörung des Maschinenraums – Verlust der Manövrierfähigkeit.
Zur Erhöhung der Resilienz können redundante Systeme eingesetzt werden, die im Falle eines Overmatch Scenarios Versorgungsleitungen, Kommunikations- und Navigationssysteme vor Sekundärsplittern und Brandeinwirkung schützen und somit die Überlebensfähigkeit signifikant erhöhen.
Zusammenfassung
Der ballistische Schutz von Marineschiffen stellt besondere Herausforderungen dar, da er gegen ballistische Bedrohungen und RPGs schützen muss, dabei aber leicht, korrosionsbeständig und modular anpassbar bleiben soll. Während für Landfahrzeuge die STANAG 4569 lediglich die Testmethoden für Schutzmaterialien definiert, gibt es im Marinebereich keine festen Bedrohungsstufen oder standardisierte Schutzklassen.
Durch gezielte Verwundbarkeitsanalysen und den Schutz kritischer Bereiche wie Brücke, Munitionslager und Maschinenräume können Marineschiffe effektiv gegen asymmetrische und konventionelle Bedrohungen abgesichert werden. Dennoch bleibt der ballistische Schutz stets ein Kompromiss zwischen Gewicht, Schutzwirkung und operativer Flexibilität und stellt eine ständige Herausforderung für Marineingenieure und Rüstungsexperten dar.
Mehler Protection ist Technologie- und Marktführer für Marineschutzsysteme in Europa. Mit dem M-RACC System (Multirole Armour Composite Components) bietet Mehler Protection ein modernes, modulares Schutzsystem mit geringem Flächengewicht, welches speziell auf die Anforderungen in maritimen Einsatzszenarien zugeschnitten ist. M-RACC Systeme bieten zuverlässigen Schutz gegen ballistische Geschosse und Splitter sowie Hohlladungen und Panzerabwehrwaffen in maritimen Bedrohungsszenarien, getestet nach STANAG 4569 AEP-55, Vol. 1. Der Schutz kritischer Bereiche des Schiffes, wie der Brücke, OpZ, MG-Stände und Munitionslager, stellt die Einsatzfähigkeit des Gesamtsystems sicher und erhöht die Überlebenswahrscheinlichkeit der Mannschaft signifikant. Die individuellen Schutzlösungen werden von Mehler Protection anhand umfangreicher Bedrohungsanalysen in Abhängigkeit des Einsatzzweckes und des sich daraus ergebenden Bedrohungsscenarios konzipiert. Auf Grundlage jahrzehntelanger Erfahrung bietet Mehler Protection die Expertise als Systemberater für die Auslegung von Marineschutzsystemen und ist somit ein wichtiger Partner führender Werften in Europa und weltweit.
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