
Update des US-Standards NIJ 0101.07
Schutzwesten sind für Sicherheitskräfte, Polizisten und zunehmend auch Privatpersonen in unsicheren Zeiten unverzichtbar. In den USA legt das National Institute of Justice (NIJ) die Standards fest, die bestimmen, wie effektiv eine Schutzweste gegen verschiedene Bedrohungen schützt. Um den modernen Anforderungen an veränderte Bedrohungsszenarien und technologischen Entwicklungen gerecht zu werden, wurde im November 2023 der NIJ-Standard auf 0101.07 aktualisiert und der Standard 0123.00 neu eingeführt. Die ersten zertifizierten Schutzwesten werden voraussichtlich ab Frühjahr 2025 verfügbar sein. In diesem Blogbeitrag werfen wir einen Blick auf die wichtigsten Änderungen und deren Bedeutung.
Die Bedeutung des ballistischen Standards NIJ
Das National Institute of Justice (NIJ) ist die Forschungs- und Evaluierungsbehörde des US-Justizministeriums. Der in den 1970er Jahren eingeführte NIJ-Standard, entwickelt vom National Institute of Justice, definiert verschiedene Schutzstufen die angeben, welche Art von Bedrohungen eine Schutzweste abwehren kann – von Handfeuerwaffen bis hin zu Langfeuerwaffen. Obwohl das NIJ die Standards für den Schutz von Polizeieinsatzkräften in den USA entwickelt hat, wird diese Norm auch von vielen anderen Ländern als internationaler Standard für Schutzwesten übernommen.
Seit seiner Einführung wurde der Standard regelmäßig überarbeitet, um neue Waffentypen, Munition und Nutzeranforderungen zu berücksichtigen. Das Update, veröffentlicht am 29. November 2023, ist eine Reaktion auf die sich verändernde Landschaft der Bedrohungen und den Fortschritt in der Materialtechnologie. Für Sicherheitskräfte bedeutet das Update auf eine strengere Norm eine höhere Zuverlässigkeit und Sicherheit im Einsatz.
Zeitlicher Ablauf der Einführung
- Veröffentlichung (29. November 2023): Die Standards 0101.07 und 0123.00 wurden offiziell herausgegeben.
- Übergangsphase: Das NIJ Compliance Testing Program (CTP) hat angekündigt, dass es ab 5. Januar 2024 keine neuen Anträge mehr für die Zertifizierung nach dem alten Standard 0101.06 annimmt. Bestehende Modelle, die vor diesem Datum eingereicht wurden, konnten jedoch weiterhin nach 0101.06 zertifiziert werden.
- Start der Tests nach 0101.07: Die Annahme neuer Anträge für Tests nach dem Standard 0101.07 begann im Jahr 2024, genauer gesagt ab Mitte April 2024 (geplant). Die eigentlichen Tests in NIJ-zugelassenen Labors starteten jedoch erst später im Jahr, etwa ab November 2024, wobei die ersten Zertifizierungen bis Frühjahr 2025 erwartet werden.
- Phasenweise Umstellung: Der alte Standard 0101.06 bleibt bis mindestens Ende 2027 gültig, um eine reibungslose Umstellung für Behörden und Hersteller zu gewährleisten. Das bedeutet, dass Schutzwesten, die nach 0101.06 zertifiziert sind, weiterhin anerkannt werden, während neue Modelle nach 0101.07 zertifiziert werden.
Die wichtigsten Änderungen im NIJ-Standard 0101.07
Erweiterte Testmethoden für moderne Munition:
Mit der Verbreitung von Hochgeschwindigkeitsmunition und speziellen Projektilen (z. B. panzerbrechende oder Hohlpunktgeschosse) wurden die Testprotokolle angepasst. Der neue Standard berücksichtigt nun eine größere Vielfalt an Kalibern und Geschossarten, die in realen Szenarien häufiger auftreten.
Integration von Stich- und Schnittschutz:
Während frühere Standards sich primär auf ballistischen Schutz konzentrierten, legt das Update mehr Wert auf kombinierte Bedrohungen. Schutzwesten müssen nun optional auch gegen Messerangriffe und andere Nahkampfwaffen getestet werden, was besonders für Polizeikräfte in urbanen Gebieten relevant ist.
Verbesserte Anforderungen an Haltbarkeit und Tragekomfort:
Neue Materialien wie ultraleichte Keramiken und flexible Verbundstoffe haben den Markt verändert. Der aktualisierte Standard verlangt, dass Schutzwesten nicht nur sicher, sondern auch langlebig und ergonomisch sind. Dazu gehören Tests zur Alterung, Feuchtigkeitsbeständigkeit und Flexibilität unter extremen Bedingungen.
Einführung eines „Threat Level“ für spezielle Szenarien:
Eine neue Kategorie wurde eingeführt, die sich auf spezifische Bedrohungen wie Schrapnelle oder improvisierte Sprengkörper (IEDs) konzentriert. Diese Änderung spiegelt die zunehmende Relevanz solcher Gefahren in Konfliktzonen wider.
Nachhaltigkeit und Recycling:
Erstmals gibt es Vorgaben zur Haltbarkeit und Umweltverträglichkeit der Materialien. Hersteller müssen nun nachweisen, dass ihre Produkte nicht nur sicher, sondern auch langlebig sind und am Ende ihres Lebenszyklus verantwortungsvoll entsorgt werden können.
Zertifizierungsprozess verschärft:
Um die Qualität zu gewährleisten, wurde der Zertifizierungsprozess strenger gestaltet. Es gibt nun regelmäßigere Nachprüfungen von Produkten auf dem Markt, um sicherzustellen, dass sie auch nach der Zulassung den Anforderungen entsprechen.
Neue Bedrohungsstufen und Terminologie
Der NIJ-Standard 0101.07 führt eine neue Nomenklatur ein, die die Bedrohungen klarer und präziser beschreibt. Die früheren Schutzstufen (z. B. Level II, IIIA, III, IV) wurden durch eine differenziertere Klassifizierung ersetzt, die zwischen Handfeuerwaffen-Bedrohungen (HG für “Handgun”) und Langwaffen-Bedrohungen (RF für “Rifle”) unterscheidet. Diese Bedrohungsstufen sind nun in einem separaten Dokument, dem NIJ-Standard 0123.00, festgelegt, das die spezifischen Testmunitionen und Geschwindigkeiten definiert. Die neue Terminologie soll Verwirrung reduzieren und die Zuordnung von Schutzwesten zu realen Bedrohungen erleichtern. Die Stufen sind:
- HG1 und HG2: Schutz gegen Handfeuerwaffen.
- RF1, RF2 und RF3: Schutz gegen Langwaffen, mit RF2 als neuer Zwischenstufe.
Dieser Ansatz ermöglicht eine flexiblere Anpassung an neue Bedrohungen, ohne den Hauptstandard 0101.07 ständig überarbeiten zu müssen.

Bedrohungsstufen für Handfeuerwaffen
Die Bedrohungsstufen für Handfeuerwaffen wurden überarbeitet, um die Leistungsfähigkeit von Schutzwesten gegen moderne Handfeuerwaffen-Munition besser abzubilden. Die technischen Anforderungen sind wie folgt:
NIJ HG1 (ehemals Level II):
Testmunition:
- 9-mm-FMJ-RN (Full Metal Jacket, Round Nose) mit 8,0 g (124 Grain) und einer Geschwindigkeit von 398 m/s ± 9,1 m/s.
- .357-Magnum-JSP (Jacketed Soft Point) mit 10,2 g (158 Grain) und einer Geschwindigkeit von 436 m/s ± 9,1 m/s.
Technische Merkmale:
HG1 ist für leichte, verdeckt tragbare Westen gedacht und bietet Schutz gegen gängige Pistolenmunition. Die Testgeschwindigkeiten sind etwas höher als im früheren Standard, um die gestiegenen Anforderungen widerzuspiegeln.
Ziel:
Schutz vor typischen Bedrohungen im Alltag von Strafverfolgungsbehörden in niedrigeren Risikobereichen.
NIJ HG2 (ehemals Level IIIA):
Testmunition:
- 9-mm-FMJ-RN mit 8,0 g (124 Grain) und einer Geschwindigkeit von 448 m/s ± 9,1 m/s (schneller als bei HG1).
- .44-Magnum-SJHP (Semi-Jacketed Hollow Point) mit 15,6 g (240 Grain) und einer Geschwindigkeit von 436 m/s ± 9,1 m/s.
Technische Merkmale:
HG2 ersetzt die frühere .357-SIG-FMJ-Flat-Nose-Munition durch schnellere 9-mm-RN-Geschosse, was die Testbedingungen verschärft. Es ist die höchste Stufe für weiche Ballistik und schützt gegen nahezu alle gängigen Handfeuerwaffen-Bedrohungen, einschließlich schwererer Kaliber wie .44 Magnum.
Ziel:
Geeignet für Einsatzkräfte, die einem höheren Risiko durch stärkere Handfeuerwaffen ausgesetzt sind.
Die Tests umfassen auch eine Perforation-Backface-Deformation (P-BFD)-Prüfung, bei der die Rückverformung (Trauma) auf maximal 44 mm begrenzt ist, um Verletzungen durch stumpfe Gewalt zu minimieren.
RiFle-Bedrohungsstufen für Langwaffen
Die Langwaffen-Bedrohungsstufen wurden erheblich erweitert, um die gestiegene Prävalenz von Gewehren in den USA widerzuspiegeln. Der Standard führt drei Stufen ein, wobei RF2 eine völlig neue Kategorie darstellt:
NIJ RF1 (ehemals Level III):
Testmunition:
- 7,62×51-mm-M80-NATO (FMJ, Stahlmantel) mit 9,6 g (147 Grain) und 847 m/s ± 9,1 m/s.
- 5,56×45-mm-M193 mit 3,6 g (55 Grain) und 3250 ft/s (ca. 990 m/s).
- 7,62×39-mm-MSC (Mild Steel Core) mit 7,8 g (120,5 Grain) und 2400 ft/s (ca. 732 m/s).
Technische Merkmale:
RF1 deckt typische Gewehrbedrohungen ab, einschließlich leichterer 5,56-mm-Munition und der weit verbreiteten 7,62×39-mm aus AK-47-Plattformen. Die Tests erfolgen auf Hartplatten in konditioniertem Zustand (z. B. nach Wasserbad), um reale Umweltbedingungen zu simulieren.
Ziel:
Schutz gegen Standard-Gewehrmunition, wie sie häufig im Einsatz vorkommt.
NIJ RF2 (neu eingeführt):
Testmunition:
Alle RF1-Bedrohungen plus 5,56×45-mm-M855 „Green Tip“ mit 4,0 g (62 Grain) und 950 m/s ± 9,1 m/s.
Technische Merkmale:
RF2 ist eine Zwischenstufe, die auf die wachsende Bedrohung durch penetrationsstarke Munition wie die M855 mit Stahlkern reagiert. Diese Munition ist für ihre Fähigkeit bekannt, weiche Panzerungen zu durchschlagen, weshalb RF2 häufig Hartplatten erfordert.
Ziel:
Einsatzkräfte, die einem erhöhten Risiko durch militärische oder modifizierte Gewehre ausgesetzt sind.
NIJ RF3 (ehemals Level IV):
Testmunition:
.30-06-M2-AP (Armor Piercing) mit 10,8 g (166 Grain) und 878 m/s ± 9,1 m/s.
Technische Merkmale:
RF3 bleibt die höchste Schutzstufe und ist speziell für panzerbrechende Munition ausgelegt. Der Test umfasst nur einen Schuss, da die Durchschlagskraft extrem hoch ist. RF3-Platten sind typischerweise schwerer und weniger flexibel.
Ziel:
Maximaler Schutz für Szenarien mit schwersten Bedrohungen, z. B. bei militärischen oder terroristischen Angriffen.
Die RF-Stufen wurden durch zusätzliche Testmethoden wie Schüsse auf die „Krone“ gekrümmter Platten und Kanten-Schüsse ergänzt, um Schwachstellen besser zu identifizieren.
Schutzausrüstung für Frauen
Ein zentraler Fortschritt im NIJ-Standard 0101.07 ist die Verbesserung der Testmethoden für weiche Schutzwesten, die speziell für Frauen entwickelt wurden. Frühere Standards berücksichtigten die anatomischen Unterschiede unzureichend, was oft zu schlechter Passform und geringerem Schutz führte. Die neuen Merkmale umfassen:
Spezifische Testprotokolle:
- Einführung eines zusätzlichen Schusses bei der P-BFD-Prüfung, der an der oberen Mitte der Weste mit einem 45°-Winkel ausgeführt wird. Dies simuliert Treffer in kritischen Bereichen, die bei Frauen durch die Brustanatomie besonders gefährdet sind.
- Anpassung der Testformen („Torsos“), um die weibliche Anatomie realistischer abzubilden, einschließlich Brustkonturen.
Technische Anforderungen:
- Die Schutzausrüstung muss flexibel genug sein, um sich der Körperform anzupassen, ohne den ballistischen Schutz zu beeinträchtigen. Dies erfordert oft fortschrittliche Materialien wie hochfeste Fasern (z. B. Kevlar oder Dyneema).
- Die maximale Rückverformung bleibt bei 44 mm, aber die Tests stellen sicher, dass der Schutz auch bei schrägen Treffern gewährleistet ist.
Ziel: Verbesserung von Komfort und Sicherheit für weibliche Einsatzkräfte, die zunehmend in sicherheitsrelevanten Berufen tätig sind. Eine bessere Passform reduziert Bewegungseinschränkungen und erhöht die Akzeptanz der Ausrüstung.

Zusammenfassung
Das Update des NIJ-Standards 0101.07 spiegelt die Notwendigkeit wider, Schutzwesten an moderne Bedrohungen und Nutzeranforderungen anzupassen. Die neuen Bedrohungsstufen HG1, HG2, RF1, RF2 und RF3 bieten eine präzisere Abstufung des Schutzniveaus, während die überarbeiteten Testmethoden – insbesondere für Frauen – die Praxistauglichkeit und Sicherheit erhöhen. Diese technischen Verbesserungen stellen Hersteller vor neue Herausforderungen, versprechen jedoch eine deutlich höhere Zuverlässigkeit und Effektivität von Schutzwesten im Einsatz.
Für Träger bedeutet das Update eine höhere Sicherheit und mehr Komfort. Besonders Einsatzkräfte, die täglich Schutzwesten tragen, profitieren von den ergonomischen Verbesserungen. Gleichzeitig könnten die strengeren Anforderungen die Kosten für zertifizierte Westen leicht erhöhen, was für Käufer – ob Behörden oder Privatpersonen – ein Faktor sein könnte.
Für Hersteller stellt das Update eine Herausforderung, aber auch eine Chance dar. Unternehmen, die innovative Materialien und Designs entwickeln, könnten sich einen Wettbewerbsvorteil sichern. Gleichzeitig müssen sie in Forschung und Entwicklung investieren, um die neuen Standards zu erfüllen.
Quellen
- Ballistic Resistance of Body Armor, NIJ Standard 0101.07 – Stand Oktober 2023: Ballistic Resistance of Body Armor, NIJ Standard 0101.07 | National Institute of Justice
- Specification for NIJ Ballistic Protection Levels and Associated Test Threats, NIJ Standard 0123.00 – Stand Oktober 2023: NIJ Standard 0123.00 – NIJ Ballistic Protection Levels and Test Threats – 2881
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