STANAG 4569: Schutzanforderungen für gepanzerte Militärfahrzeuge
Das Standardisierungsabkommen STANAG 4569 (NATO AEP-55 STANAG 4569) legt fest, wie gepanzerte Fahrzeuge gegen ballistische Bedrohungen, Minen und unkonventionelle Sprengvorrichtungen (IEDs) geschützt werden sollen, um ihre Einsatzfähigkeit im militärischen Kontext zu gewährleisten.
In diesem Blogbeitrag erläutern wir die verschiedenen Schutzstufen, die Testmethoden und die Bedeutung des Abkommens für die Sicherheit und Effektivität moderner Militärfahrzeuge. Ursprünglich als einheitliche Vorgabe für den Schutz von militärischen Landfahrzeugen entwickelt, werden die im STANAG 4569 beschriebenen Schutzklassen und Prüfmethoden mittlerweile auch im Bereich des Plattformschutzes für Luft-, Land- und Seefahrzeuge eingesetzt.
Ballistische Schutzstufen für Insassen von gepanzerten Fahrzeugen
Die AEP-55, Vol. 1, die dem STANAG 4569 zugeordnet ist, beschreibt einen einheitlichen und verbindlichen Ablauf zur Prüfung und Abnahme des Insassenschutzes gegen ballistische Bedrohungen. Dies gewährleistet, dass Fahrzeuge, die nach STANAG 4569 geschützt sind, einen vergleichbaren Schutz für ihre Insassen bieten, was für militärische Entscheidungsträger in der NATO eine einheitliche Grundlage bietet, Fahrzeuge effektiv für aktuelle und zukünftige Bedrohungsszenarien zu beschaffen und einzusetzen.
Das Schutzniveau eines Fahrzeugs wird anhand des Grades des Insassenschutzes gemessen, wobei mehr als 90 % des Insassenraums geschützt sein müssen. Sekundärsplitter oder Fragmentbildung im Insassenraum gelten dabei als Durchschlag und sind daher inakzeptabel.
Je nach Fahrzeugkategorie und Schutzforderung wird das Schutzniveau einem der sechs Level zugeordnet. Mit steigendem Level erhöht sich das Schutzniveau gegenüber Projektilen (KE-Bedrohungen) und Artilleriebeschuss. Ein durchdachtes Konzept für Materialwahl, Befestigungen und Schnittstellen ist entscheidend, um einen optimalen Schutz zu gewährleisten. Die Schutzwirksamkeit wird durch Beschussprüfungen am Fahrzeug nachgewiesen.
Schutzklasse | KE-Bedrohung | Referenz Artillerie |
6 |
Waffe: Automatik-Kanone, 30 mm Munition: APFSDS und AP |
Artillerie: 155 mm Geschätzte Reichweite der Explosion: 10 m Azimut 360° Elevation: 0 – 90° |
5 |
Waffe: Automatik-Kanone, 25 mm Munition: APDS und APFSDS Entfernung: 500 m |
Artillerie: 155 mm Geschätzte Reichweite der Explosion: 25 m Azimut 360° Elevation: 0 – 90° |
4 |
Waffe: Schweres Maschinengewehr, 14,5 mm Munition: AP |
Artillerie: 155 mm Geschätzte Reichweite der Explosion: 25 m Azimut 360° Elevation: 0 – 90° |
3 | Waffe: Maschinengewehr und Scharfschützengewehre, 7,62 mm Munition: AP-Wolframkarbid und AP-Hartstahlkern Entfernung: 30 m Anale: Azimut 360°; Elevation 0-30° |
Artillerie: 155 mm Geschätzte Reichweite der Explosion: 60 m Azimut 360° Elevation: 0 – 30° |
2 |
Waffe: Sturmgewehre, 7,62 mm Munition: AP-Stahlkern Entfernung: 30 m |
Artillerie: 155 mm Geschätzte Reichweite der Explosion: 80 m Azimut 360° Elevation: 0 – 22° |
1 |
Waffe: Sturmgewehre: 7,62 und 5,56 mm Munition: Kugel |
Artillerie: 155 mm Geschätzte Reichweite der Explosion: 100 m Azimut 360° Elevation: 0 – 18° |
Neben der Betrachtung der Anforderungen an den Schutz gegen ballistische Bedrohungen ist auch der Schutz gegen die Splitterwirkung von Artilleriemunition gemäß STANAG 4569 zu berücksichtigen.
Schutz gegen Artilleriesplitter
Gemäß der jeweiligen Bedrohungslage bei militärischen Einsätzen schreibt STANAG 4569 auch den Schutz vor der Splitterwirkung von Artilleriemunition vor. Abhängig von der Fahrzeugklasse und dem Schutzgrad ist die kürzeste Sprengdistanz festgelegt, innerhalb derer das Fahrzeug die Insassen vor den Auswirkungen auftreffender Splitter schützen muss. Dabei nehmen sowohl die Geschwindigkeit als auch die Dichte der Splitter mit zunehmender Entfernung vom Detonationsort ab.
Schutzklasse | Reichweite des Ausbruchs (m) | 12.7 mm FSP Vproof (m/s) | 20 mm FSP Vproof (m/s) |
5 | 25 | – | 960 |
4 | 25 | – | 960 |
3 | 60 | 560 | 770 |
2 | 80 | 420 | 630 |
1 | 100 | 310 | 520 |
Für die Überprüfung der Schutzwirksamkeit werden Ersatzprojektile verwendet, die die Wirkung der Splitter simulieren (FSP: Fragment Simulating Projectiles).
Neben dem Schutz gegen Artilleriesplitter wird auch die Mehrfachbeschussfähigkeit nach STANAG 4569 gefordert. Diese Fähigkeit stellt sicher, dass gepanzerte Fahrzeuge mehreren aufeinander folgenden Angriffen standhalten können.
Mehrfachbeschussfähigkeit
Die Anforderungen an die Mehrfachbeschussfähigkeit sind spezifische Vorgaben, die sicherstellen sollen, dass gepanzerte Fahrzeuge in der Lage sind, mehrere aufeinanderfolgende Angriffe zu überstehen, ohne ihre Schutzfunktion zu verlieren. Die Mehrfachbeschussfähigkeit wird gemäß der Multi-Hit-Forderung nach STANAG 4569 AEP-55, Vol. 1 überprüft.
Für die transparenten Bereiche („Panzerglas“) erfolgt die Multi-Hit-Prüfung für die Level 1 bis 3 mit dem Trefferbild eines gleichseitigen Dreiecks mit 120 mm Kantenlänge (siehe dazu die folgende Abbildung).
Der Multi-Hit für die nicht-transparenten Bereiche wird durch ein Trefferbild aus 2×2 Treffern überprüft, von denen jeweils zwei Treffer dicht nebeneinander (in ca. drei Kaliber Abstand) angeordnet sind.
Die Implementierung von Schutzlösungen zur Erfüllung der Mehrfachbeschussfähigkeit erfordert spezielle Maßnahmen bei der Materialauswahl, der Konstruktion von Befestigungen und Schnittstellen sowie bei der Auswahl geeigneter Panzerungsmaterialien. Dies gewährleistet, dass das Fahrzeug auch unter realen Einsatzbedingungen zuverlässig geschützt ist.
Strukturierte Prüfmethodik
Die Prüfmethodik nach STANAG 4569 AEP-55, Vol. 1 bietet einen strukturierten Rahmen für die Bewertung und Zulassung der Schutzsysteme gepanzerter Fahrzeuge gegen ballistische Bedrohungen. Diese Standardisierung gewährleistet, dass Fahrzeuge, die nach diesem Standard geschützt sind, einen verlässlichen Insassenschutz gemäß den Anforderungen der NATO bieten.
Die Prüfung und Abnahme des Fahrzeugschutzes erfolgt durch eine „National Authority“ und ist in vier Phasen unterteilt:
Phase 1: Definition des Prüfplans / Prüfumfangs und Definition der Prüfmuster
In dieser Phase werden der Prüfplan und der Prüfumfang detailliert festgelegt. Es wird definiert, welche Prüfmuster verwendet werden sollen und welche spezifischen Anforderungen sie erfüllen müssen
Phase 2: Ballistische Prüfung der Hauptflächen aller Schutzanordnungen (Plattentests)
Hierbei werden die Hauptflächen aller Schutzanordnungen des Fahrzeugs ballistischen Prüfungen unterzogen. Diese Tests stellen sicher, dass die Schutzmaterialien in der Lage sind, den festgelegten Bedrohungen standzuhalten.
Phase 3: Ballistische Prüfung der strukturellen Schwachstellen (Komponententests/Fahrzeugtest)
In dieser Phase werden die strukturellen Schwachstellen des Fahrzeugs geprüft. Es erfolgt eine detaillierte Analyse und Prüfung der Komponenten, die potenzielle Schwachstellen darstellen könnten, um sicherzustellen, dass sie unter Beschuss keine unzureichende Schutzwirkung aufweisen.
Phase 4: Bewertung des Schutzabdeckungsgrads (90%-Kriterium)
Abschließend wird der Schutzabdeckungsgrad des Fahrzeugs bewertet. Es muss nachgewiesen werden, dass mehr als 90 % des Insassenraums ausreichend geschützt sind. Sekundärsplitter oder Fragmentbildung im Insassenraum gelten als Durchschlag und sind daher nicht akzeptabel.
Basierend auf der definierten Prüfmethodik werden die spezifischen Anforderungen an die Munition festgelegt, die für die Durchführung der Tests verwendet werden soll.
Munitionsanforderungen und Testbedingungen
Die STANAG 4569 definiert in der AEP-55, Vol.1 die Munition, die für die Prüfung der Schutzlevel zu verwenden ist und legt die Prüfbedingungen, Test-Setups, Beschuss- und Auftreffwinkel sowie das Deutmedium für die Schutzbewertung fest.
Schutzklasse | Munition | Auftreffgeschwindigkeit (± 20 m/s) |
6 | 30 mm x 173 APFSDS-T | nicht öffentlich verfügbar |
5 | 25 mm x 137 APFSDS-T 25 mm x 137 APDS-T |
1336 m/s 1258 m/s |
4 | 14.5 mm x 114 API/B32 | 911 m/s |
3 | 7.62 mm x 54R B32 API 7.62 mm x 51 AP (WC core) |
854 m/s 930 m/s |
2 | 7,62 × 39 mm API BZ | 695 m/s |
1 | 7,62 × 51 mm NATO Ball (Ball M80) 5,56 × 45 mm NATO Ball (SS109) 5,56 × 45mm NATO Ball (M193) |
833 m/s 900 m/s 937 m/s |
Die Beschusswinkel für die einzelnen Flächen werden anhand der Angriffswinkel und der Einbaulage im Fahrzeug ermittelt.
Durch die genaue Spezifikation dieser Parameter und Bedingungen gewährleistet die AEP-55, Vol. 1, dass die Ergebnisse der Prüfungen reproduzierbar sind und dass Fahrzeuge, die gemäß STANAG 4569 zertifiziert sind, einen standardisierten Schutz bieten können, der den militärischen Anforderungen entspricht.
Zusammenfassung
Das Standardisierungsabkommen STANAG 4569 AEP-55, Vol. 1 bietet erstmalig und NATO-übergreifend eine einheitliche und verbindliche Forderung für den Insassenschutz und die ballistische Prüfung gepanzerter militärischer Landfahrzeuge.
Ausgerichtet auf die Bedrohungslage bei militärischen Einsätzen bieten Fahrzeuge mit Schutz nach STANAG 4569 AEP-55, Vol. 1 maximalen Schutz für die Insassen in sechs abgestuften Schutzleveln. Die anspruchsvollen Forderungen an den Splitterschutz sowie die Mehrfachbeschussfähigkeit der Panzerung erfordern besondere Maßnahmen bei der technischen Umsetzung von Schutzlösungen.
Die aus der militärischen Einsatzpraxis abgeleiteten Schutzforderungen, der Fokus auf den Insassenschutz und die methodische Vorgehensweise sind nur einige der Gründe dafür, dass das STANAG 4569 AEP-55, Vol. 1 als Blaupause für zahlreiche Anwendungen im Plattformschutz für Luft-, Land- und Seefahrzeuge Verwendung findet.
Mehler Protection entwickelt fortschrittliche Systemlösungen auf Basis neuester modularer Verbundwerkstofftechnologien. Unsere Lösungen umfassen den Schutz vor ballistischen Bedrohungen, Minen, IEDs und Streumunition sowie innovative Systeme gegen Hohlladungen und Dronenangriffe.
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Quelle: STANAG 4569 Ed. 4, Protection Levels For Occupants Of Armoured Vehicles – AEP-55 Edition D & AVPP-01 Edition B & AVPP-02 Edition A, NSO NSDD (nato.int)
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